Die Grafschaft Bentheim in der Geschichte


Nachkriegszeit

Helmut Lensing

Unruhige Zeiten

Nach dem Ende des 1. Weltkrieges strömten ständig neue Verbände der deutschen Armee in die Grafschafter Städte, um dort ordnungsgemäß demobilisiert zu werden. Sie kamen aus den zu räumenden besetzten Gebieten im Westen und bald darauf aus dem Rheinland, in dem sich nach den Waffenstillstandsbedingungen keine deutsche Truppen mehr aufhalten durften. Zugleich versuchten unzählige Kriegsgefangene aus Deutschland auf eigene Faust über die Niederlande möglichst schnell in ihre Heimat zu gelangen.
Ehrenbogen für die heimkehrenden Truppen in Nordhorn - Bild: privat
Der Lehrer von Frensdorfer Haar direkt an der Grenze zu den Niederlanden überliefert dazu in seiner Schulchronik: „Von Freitag, 22. Nov., zogen die Posten nicht mehr auf die Wachen, nur 2 Mann bewachten das Wachhaus am Kanale und bei Schüttmann wegen der darin aufbewahrten Patronen … Daß die militärische Disziplin in Deutschland sich lockerte, zeigte sich an der Grenze deutlich an den vielen feindlichen Gefangenen, die nicht nur aus den Lagern, sondern auch von ihren sonstigen Arbeitsstätten entwichen und nach Holland strebten. Im Dezember kamen jeden Tag größere und kleinere Gruppen Russen, Serben, Franzosen und Belgier über die Grenze, zum Teil gut versehen mit Lebensmitteln und Geld, was den Verdacht des unredlichen Erwerbs erregte.“

Die Leiter der Schule Nordhorn-Altendorf berichtet über den Einmarsch der zu entlassenden deutschen Krieger und die dazu nötigen Vorbereitungen in seiner Schulchronik: „Abends um 6 Uhr zum Rathaus gerufen. Stadtsekretär Kloppmeyer eröffnet uns, dass Nordhorn stark von Militär belegt wird und zu dem Zwecke unverzüglich alle Schulen des Verbandes zu räumen sind. Die Soldaten sollen wegen Ansteckungsgefahr in Massenquartiere untergebracht werden … 24.11.1918: In Nordhorn hängen die Fahnen seit dem 23.11.1918 in den Straßen. Wann die heimkehrende Truppe einrückt, ist nirgends mit Sicherheit zu ermitteln. … Geschmückt ist wenig.

Deshalb schicke ich Frau Rektor Schulte zur Vorsitzenden des hiesigen Frauenvereins, damit diese die Anfertigung von Gierlanden u. dergl. organisiert.“ Die Schulkinder wurden eingesetzt, um letztes herbstliches Grün aus der Natur zu holen.

Die Ansteckungsgefahr wurde besonders erwähnt, denn Im November 1918 hatte die weltweit grassierende Spanische Grippe ihren Höhepunkt erreicht und raffte viele Menschen dahin. Erkrankte Soldaten sollten offenbar nicht ihre Quartiergeber anstecken.

Endlich erreichten die angekündigten Soldaten Nordhorn: „1.12.1918: Mittags 2 Uhr rücken die 239er ein. Sie kommen aus dem Raum von Brügge und sind seit dem 6. vorigen Monats unterwegs … Maschinengewehr-, Pak- u. Munitionswagen rollen in langen Reihen durch die Straßen. Pferde tragen bunte Papierblumen am Kopf u. sehen durchweg gut aus, nur lassen sie die Pflege vermissen. Die Kinder klettern zum „Onkel Soldat“ auf den Bock, die kecksten springen aufs Pferd – die Erwachsenen stehen schweigend am Rande der Straße oder im Türrahmen.“

Erwähnenswert schien dem Rektor auch diese Beobachtung: „Nach unruhigen Tagen sind die letzten Truppen am Sonnabend (7/12) abgereist. Die Akten des Regiments wurden auf dem Schulhof verbrannt, Pferde, Geschirr, Anzüge, Seife oft zu Schleuderpreisen an die Bevölkerung veräußert.“

Die Situation in Schüttorf beschrieb der Fabrikant und seinerzeitige Ratsherr Johann Bernard Schlikker in einem Rückblick einige Jahre später: „Nach kurzer Zeit kamen hier dann die ersten zurückflutenden Truppen durch, wurden verpflegt und meist auf eine Nacht einquartiert. Am folgenden Tage zogen sie weiter, um anderen Platz zu machen. Was war aus den früher so schmucken, strammen Soldaten geworden. Man sah es ihnen an, dass sie viel durchgemacht hatten. Dann folgten die Verkäufe von Heeresgut, namentlich Pferden. Da hat sich mancher ein brauchbares, manchmal ein sehr guter Pferd – oder auch mehr als eins – für wenig Geld gekauft. Die ganz Schlauen zahlten mit Kriegsanleihen, was gestattet war.“

Auch die Kreisstadt Bentheim sah viele zu demobilisierende Soldaten in ihren Mauern, wie in der Chronik der evangelischen Schule zu lesen ist:

„Der Leiter der evangelischen Volksschule, Lehrer Weduwen, wurde am 22. November 1918 aus dem Heeresdienst entlassen. An demselben Tage mussten die Unterrichtsräume sämtlicher sieben Klassen geräumt werden, da sie als Quartiere für die hier durchkommenden Truppen der IV. Armee dienen sollten. Durch Bentheim und die Nachbarorte kamen nacheinander – meistens über Gildehaus – Soldaten des Landsturmbataillons V/28 aus Köln, des Landwehr-Infanterie-Regiments Nummer 35, der 6. Kavallerie-Division (7. Kürassier-Regiment in Halberstadt und 12. Husaren-Regiment in Torgau), der 2. Marine-Infanterie-Division und des Reserve-Feld-Artillerie-Regiments Nummer 23“.

In der Gildehauser Schulchronik ist über diese unsichere Nachkriegszeit zu lesen, in der überdies in einigen Regionen kommunistische Gruppen die Macht zu übernehmen suchten: „Überall im Lande werden Putschversuche gemacht und dabei die Gelegenheit zu Plünderungen und Erpressungen benutzt. Auch hier auf dem Lande kam es öfters vor, dass Bauern ihrer Vorräte an Lebensmitteln und Geschlachtetem beraubt wurden. Auf der Straße von Gildehaus nach Bardel, unweit des Bauern Landsmann, wurde sogar ein Bauernsohn aus Ochtrup, wahrscheinlich von einem Soldaten, ermordet und seiner Barschaft in der Höhe von 400 Mark beraubt. Überall bilden sich Ortswehren, um die Bewohner vor Überfällen zu schützen, so auch in Gildehaus mit 130 Mitgliedern.“

Zum Schutz der ländlichen Bevölkerung, aber auch als bewaffneten Gegenwicht zu den linksrevolutionären Arbeitern, schossen Einwohner- oder Sicherheitswehren wie Pilze aus dem Boden. In der Osterwalder Schulchronik ist darüber im Frühjahr 1919 zu lesen:

„Im Laufe des Winters ließen Ordnung und Sicherheit sehr zu wünschen übrig. Gezwungenermaßen griff man da zur Selbsthilfe und bildete eine freiwillige Einwohnerwehr zum Schutze vor Diebstahl, Raub und Plünderung, mit dem lichtscheues Gesindel uns bedroht. Die Gemeinde wurde dieserhalb in 4 Bezirke eingeteilt, und geht nachts in jedem Bezirke eine aus 2 Mann bestehende Wehr.“

Quellen: Schulchroniken der genannten Schulen
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