Die Grafschaft Bentheim in der Geschichte


Kriegsbeginn

Helmut Lensing

Die Grafschaft Bentheim und der Beginn des Ersten Weltkriegs

Erste Kriegsahnungen

Als am 28. Juni 1914 ein serbischer Attentäter den österreichischen Kronzprinzen Franz-Ferdinand und seine Gattin in Sarajewo ermordete, ahnten die Grafschafter noch nicht, welche Folgen diese Tat im weit entfernten Bosnien-Herzegowina auch für sie haben werde.

Die Schulchronik Wilsum hielt dazu fest: „Nach der Ermordung des österreichischen Thronfolgers durch serbische Schergen stand ganz Europa, ja die ganze Welt in banger Erwartung der kommenden weltgeschichtlichen Ereignisse. Während man in Deutschland friedlich der Arbeit nachging, verdunkelte sich der politische Horizont im Südosten Europas immer mehr. Aus dem verschwommenen Farbenbilde traten die einzelnen Töne immer deutlicher hervor. Das österreichische Ultimatum an Serbien vom 23. Juli 1914 schaffte Klarheit. Als die serbische Regierung diese Note nicht in befriedigender Weise beantwortete, erklärte Österreich-Ungarn Serbien am 28. Juli den Krieg. Bald zeigte es sich, dass die Entente hinter den gedungenen Serben (serbischen Mördern) stand. Am 31. Juli befahl darum seine Majestät der deutsche Kaiser die Mobilmachung für Heer und Flotte“.

Im benachbarten Wielen notierte der Lehrer dazu: „Um Deutschland den Platz an der Sonne streitig zu machen, betrieb der König von England Einkreisungs-Politik. England, Frankreich und Rußland schlossen ein Bündnis zur Vernichtung Deutschlands. Frankr. hatte sich dem Bunde angeschlossen, um die Schmach von 70/71 abzuwaschen und Elsaß-Lothringen zu bekommen; Rußland wollte die Grenzen zu seinem Gunsten nach Westen verschieben.

So kam das denkwürdige Jahr 1914. In dem kleinen Serbien hatte sich ein Bund der Panslawen gebildet, um ein Groß-Serbien zu bilden. Zu diesem Zwecke sollten alle Slawen Öst.-Ungarn dazu gehören, um das aber zu erreichen, mußte der Thronfolger, der Reformer des Heerwesens, gestürzt werden. Der Bund der Pansl. hatte daher beschlossen, denselben zu töten. Die beste Gelegenheit bot sich ihnen, als derselbe im Juni 1914 eine Inspektionsreise unternahm und auch nach dem Städtchen Serajevow [!] kam. In dieser Stadt sollte der Beschluß in die Tat umgesetzt werden. Hier fielen der Thronfolger nebst Gemahlin dem Anschlage zum Opfer. Ein Schrei der Entrüstung hallte durch die ganze Welt, als die Tat bekannt wurde. Die Mörder wurden verhaftet.

Kaiser Franz I. verlangte von Serbien die Mitwirkung österreichischer Polizei bei Aufdeckung der Verschwörung. Serbien, Rußlands Hilfe im Kriege gegen Österreich gewiß, weigerte solches. So war der Krieg zwischen Österreich und Serbien unvermeidlich geworden. Der Weltkrieg brach aus. Der Stein, einmal ins Rollen gebracht, konnte nicht mehr zum Halten gebracht werden. Die Würfel waren gefallen. Da Rußland mobil machte und seine Truppen an die Westgrenze warf, so mußte Deutschland notgedrungen auch mobil machen. … Auch in dem stillen Winkel unseres Ortes kam die Nachricht von der Mobilmachung“.

Der Leiter der Neuenhauser reformierten Schule hielt nur kurz und knapp zur Bekanntgabe des Kriegszustandes fest: „Am Abend dieses Tages fanden impulsive patriotische Kundgebungen statt. Aus allen Lokalen hörte man den Gesang vaterländischer Lieder. Auch fand ein großer Umzug junger Leute durch die Straßen statt“.
1914-BZ-Nr.61-01.08.1914-Kriegsgefahr
In seinen Erinnerungen beschrieb der Zeitungsherausgeber Georg Kip diese Tage folgendermaßen: „Die politische Lage hatte sich, nachdem Ende Juni das österreichisch-ungarische Thronfolgerpaar von einem serbischen Fanatiker ermordet worden war, in den letzten Tagen des Juli bedrohlich zugespitzt. Unkontrollierbare Gerüchte ließen die Nervosität der Bevölkerung aufs höchste steigen. Alles fieberte nach sicheren Nachrichten. Sie liefen aber nur spärlich ein und wurden meist auch nicht mehr geglaubt, während man allen Redereien, die irgendwo auftauchten, nur zu leicht geneigt war, Glauben beizumessen.

Die unerträgliche Spannung löste sich am Nachmittag des 31. Juli, als die amtliche Meldung vom befohlenen Kriegszustand kam. Begründet war sie mit der drohenden Haltung Rußlands. Der Zustand der Kriegsgefahr braucht noch nicht unbedingt den Krieg zu bedeuten, doch wagte niemand mehr Hoffnung auf Vermeidung des Aeußersten zu hegen. Schon arbeitete die Maschine; noch an demselben Abend wurden uns vom Hülfsamt eine Anzahl von Bekanntmachungen überbracht, die versiegelt dort für solchen Fall geruht hatten. Am späten Abend brachten wir sie durch Sonder-Ausgabe zum Versand.

Der erste August 1914 zog herauf; in dumpfer Spannung und fieberhafter Erregung wartete alles auf die Entscheidung. Die Minuten glichen Stunden; an Arbeit wurde kaum gedacht; die Frauen saßen vor den Türen und die Männer standen in Gruppen beieinander, eifrig und aufgeregt alle Möglichkeiten besprechend. Es war ein glühend heißer Tag, die Hitze lähmte alle Spannkraft; je weiter die Uhren am Nachmittag vorrückten, desto höher stieg die Erregung. Langsam verrannen die Stunden; nichts, gar nichts geschah. Da, endlich gegen Abend die Lösung der kaum mehr ertragbaren Spannung: Mobil! Eine kurze, aber welch’ inhaltschwere Meldung.

In der Druckerei war das Extrablatt vorbereitet gewesen, so wurde die Nachricht im Augenblick herausgebracht. Die Menge riß sich, obwohl der Inhalt den meisten durch den inzwischen erfolgten Postaushang schon bekannt war, um die noch druckfeuchten Blätter. Ein ungeheurer seelischer Druck legte sich in diesem Augenblick der Entscheidung nun doch auf alle; die härtesten Männer sah man kreidebleich werden, Frauen und Mädchen schluchzten laut auf“.
1914-ZuA-Nr.60-29.07.1914-Krieg-Österreich-Serbien
Die Reaktionen in den größeren Grafschafter Gemeinden auf den Kriegsbeginn

Der Zeitungsherausgeber Georg Kip erlebte als Reaktion auf die Nachricht vom Kriegsbeginn: „Ueberall, spontan, nirgendwo angeregt, bildeten sich Umzüge, die, patriotische Lieder singend, durch die Straßen zogen. Ehrlich, bei allen Deutschen war in diesem bewegten Augenblick die heiße Liebe zum Vaterlande emporgequollen. Noch wußte man nichts von dem Kaiserwort: „Ich kenne keine Parteien mehr; ich kenne nur noch Deutsche!“

Die Neuenhauser „Zeitung und Anzeigeblatt“ berichtete am 1. August 1914 aus Uelsen über die dortige Reaktion auf die Mobilmachung: „Gestern abend saßen einige Kartenspieler, friedlich ... an ihrem gewohnten Donnerstag-Stammtisch, als ihnen die schwerwiegende letzte Forderung Deutschlands an Rußland bekannt wurde. Die Ausgabestelle der Niedergrafschafter Zeitung hatte die Nachricht auf einem Sonderblatt nach hier gelangen lassen ... Jene Spieler hörten selbstverständlich sofort auf, denn alle Aufmerksamkeit war dahin. Der Raum füllte sich zugleich mit erregten Gruppen von Eingesessenen und von der Straße her hörte man lebhafte, sich nähernde Musik. Bald ist auch der letzte Platz im Gastzimmer besetzt. Die Kapelle läßt als erste vaterländische Weise die Musik zu „Deutschland, Deutschland über alles“ erschallen. Kaum sind die letzten Töne verklungen, als ein zufällig anwesendes Mitglied des Ortsvorstandes in kurzer Rede an den Ernst der Stunde mahnt und an das Wort des ... Seehelden Nelson erinnert, „das Vaterland erwartet, daß Jeder seine Pflicht tut.“

Der Sprecher endete mit einem begeistert aufgenommenen Hoch auf Kaiser und Vaterland. Das Lied „Heil Dir im Siegerkranz“ wird im Anschluß daran von allen kräftig gesungen, aber auch die andern vaterländischen Weisen, die die Musik mit Viola, Baß und Geigen ertönen lässt, werden lebhaft begleitet und in den zwischendurch gruppenweise geführten Gesprächen wird überall der feste Wille zur notgedrungenen Tat kund. Da war ein kurzer Wellenschlag von der wogenden Stimmung, die zur selben Zeit zweifellos durchs ganze deutsche Vaterland gegangen ist. Auf Uelsens Straßen befanden sich freilich um Mitternacht noch Trupps von Mädchen und Frauen, deren Stimmung sehr, sehr bedrückt war“.

Der Führer der Nordhorn-Altendorfer Schulchronik berichtet kurz und knapp: „Waren schon die Wochen, die dem Morde des österr. Thronfolgers folgten, voll Unruhe u. Ungewißheit, so zeigte und der am 31. Juli erklärte Kriegszustand in vollem Maße den Ernst der Lage. Am Nachmittag des 1. Aug., 5 ½ Uhr traf hier die Nachricht von der Mobilmachung ein.
Gleich darauf wurde in der Stadt die erste Einquartierung angekündigt, die, da der Zweck derselben nicht bekannt war, zu allerlei Mutmaßungen Anlaß gab.
Glaubte man doch, daß Holland, das schon seit mehreren Tagen seine dienstpflichtigen Leute einzog, gegen uns vorgehen u. somit der Kampf an der Grenze hier entbrennen wurde.
Doch bezog sich die Einquartierung nur auf Artilleriekommandos, die bestimmt waren, die hier ausgemusterten Pferde abzuholen. Die Kriegserklärung wurde allseitig mit vollem Ernste, doch mit Begeisterung aufgenommen, wovon ein am Abend veranstalteter, gewaltiger Umzug Kunde gab“
.

Darüber hielt die Schulchronik Nordhorn-Frensdorf fest: „Es war am Sonnabend, den 1. August, nachmittags gegen 6 Uhr, als der Mobilmachungsbefehl Unseres Kaisers telegraphisch nach hier gelangte. Mit Begeisterung wurde die Nachricht aufgenommen. Singend ging’s durch die Straßen. Aus tiefster Seele kam das „Deutschland, Deutschland, über alles, über alles in der Welt“ und „Lieb Vaterland, magst ruhig sein, wir alle wollen Hüter sein,“ und „So lang ein Tropfen Blut noch glüht, noch eine Faust den Degen zieht, und noch ein Arm die Büchse spannt, betritt kein Feind hier deinen Strand“.

Die Reaktionen der Landbevölkerung

Über die Lage in Niedergrafschafter Grenzort Emlichheimer Weusten hielt der dortige Lehrer in seiner Schulchronik fest: „Die Nachricht von der Ermordung des österreichischen Thronfolgers erregte auch hier gleich viel Besorgnis. Wenn ich auf meinen Spaziergängen mit den gerade mit Roggenmähen beschäftigten Leuten sprach, fragte man gleich nach den möglichen Folgen dieser Bluttat. Aber der Gedanke an die oft bewiesene Feindesliebe unseres Kaisers beruhigte die ahnungsschwangeren Gemüter. Das Vertrauen auf die väterliche Fürsorge des geliebten Landesherrn ging so weit, daß man den Nachrichten über die Unabwendbarkeit des Krieges und die befohlene Mobilisation von Heer und Flotte kaum Glauben schenken wollte. Wohl nirgends im weiten Vaterlande waren die Menschen untröstlicher und trauriger als hier im entlegenen Grenzbezirk, wo sich nicht die Masse zu heller Begeisterung entzünden kann. Abschiednehmen und in den Krieg ziehen war diesen zufriedenen Menschen, deren ganzes Sein in der Heimat wurzelt, etwas unsagbar Schweres. Ihre Abschiedsklage scholl über die blühende Heide. (Buchstäblich!) Aber keiner hat auch nur daran gedacht, sich der für sie schweren Pflicht durch Flucht über die nahe Grenze zu entziehen“.

Ähnlich sah es laut Schulchronik in Georgsdorf aus: „Die Gespräche im Telephon, über private Angelegenheiten, über den Postverkehr mit dem Auslande und mit Teilen des Inlandes, über Ausfuhrverbote (auch Piccardie-Coevorden-Kanal) und dgl. schienen am Freitag kein Ende nehmen zu wollen, bis schließlich mit der Verhängung des Kriegszustandes alles verstummte.

Je länger die äußere Ruhe, desto größer die innere Erregung. … Niederdrückende Schwüle wie vor einem nahenden Gewitter. Beängstigende Ruhe vor schwerem Sturm bis schließlich am Sonnabend nachmittags 6 ½ Uhr „Mobilmachung“ gemeldet wurde. Durch einige Boten wurde diese schreckenerregende Nachricht in die Häuser unserer Gemeinde getragen. Nicht in vaterländischen Liedern ausklingende Begeisterung, sondern dem Charakter des Landbewohners entsprechend in tiefem, stillem Ernst wurde hier die weltbewegende Tatsache aufgenommen ...

Als dann am folgenden Morgen noch das Landsturmaufgebot bekannt gegeben wurde, da beschlich manches Herz ein leises Schauern, ein Sorgen und Bangen umsomehr, als auch viele unwahre, besorgniserregende Nachrichten von allen Seiten verbreitet wurden. Doch keiner wollte es glauben, was Wirklichkeit war: „Der Feind im Land! Die Russen haben die Grenze überschritten!“ Am 2. August, dem ersten Mobilmachungstage, fand in der Kirche für die Kriegsteilnehmer eine Abschiedspredigt statt, verbunden mit gemeinsamer Feier des hl. Abendmahls. Herr Pastor Voget wies die Gemeinde hin auf das Vorbild der Führer des Volkes Israel im Kampfe wieder die Amalekiter (2. Mos. 17, 8-16), während er den ins Feld ziehenden Mannschaften ermutigend die Worte zurief: „ Füchtet euch nicht vor denen ... “(Matth. 10,28)“.

In der Schulchronik Balderhaar Moor ist zu lesen: „Die Stimmung war anfänglich durch die holländische Grenze stark beeinflußt, schlecht. Die fabelhaftesten Lügenberichte holländischer Zeitungen, die sich hier schnell verbreiteten wurden von den Leuten, namentlich von geborenen Holländern, geglaubt und als wahr weiter gegeben“.

Aus Lage vermeldet die dortige Schulchronik: „Bis dann plötzlich der schrille Ruf „Mobil“ die Leute von ihrer emsigen Arbeit auffahren ließ! Das war am Sonnabend abends bald nach ½ 7 Uhr, da ruhten in unserem Dorfe alle Sensen und Arme, und erregte Gruppen standen allerwärts auf der Straße, die mit ernsten Mienen die Lage erörterten. Wir gehen fehl, wenn wir annehmen, in Liedern, Reden und Hochrufen äußern sich in einem kleinen Dörfchen wie Lage spontane Begeisterung – nur die Tat sollte von dieser zeugen, wie späterhin dargetan werden soll. Unser Landbewohner, in dessen Gesichtskreis seine Äcker u. Weiden, seine Familienangehörigen und all seine ureigensten Interessen zunächst alles fern liegende verdrängen, fragt sich sogleich: „Wer von den Deinen muß mit ins Feld? Ob er wiederkommt?“ Und diese Fragen brachten manchem Mutterauge Tränen und Schluchzen hörte man bei der jungen Gattin, die doch so stolz auf ihren strammen Reservisten gewesen war“.

Ähnlich sah es in Neuringe nach der Chronik der dortigen Schule aus: „Nachdem am Mittag des 31. Juli der Kriegszustand erklärt worden war, kam am Sonnabend, dem 1. August abends die Kunde, daß unser Kaiser, nachdem alle Bemühungen zur Erhaltung des Friedens vergeblich gewesen waren, die Mobilmachung des Heeres und der Flotte befohlen habe. Der Vorsteher ging von Haus zu Haus und verkündete es. Ein tiefer Ernst und ein sichtbarer Druck legten sich auf alle Gemüter. Galt es doch, zumal Italien seiner Bündnispflicht nicht nachkam, einen an Zahl weit überlegenen Feind zu besiegen. Der Ernst der Lage wurde noch mehr beleuchtet, als der Landsturm in der Frühe des Sonntags aufgerufen wurde. Wer nur eben konnte, folgte dem Rufe der Glocke zum Gotteshaus. Die Flamme der Begeisterung für die gerechte Sache loderte hell empor“.

Erklärung:
Panslawismus: Bestrebungen zum Zusammenschluss der slawischen Völker, meist unter russischer Führung, was unausweichlich eine Zerschlagung Österreich-Ungarns bedeutete

Literatur
Lensing, Helmut, Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs in der Grafschaft Bentheim, in: Bentheimer Jahrbuch 2005 (Das Bentheimer Land, Bd. 170), Bad Bentheim 2004, S. 237-252.

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