Die Grafschaft Bentheim in der Geschichte


Alkoholismus

Helmut Lensing

Der Kampf gegen den Alkoholismus

Nachdem im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts die ersten Textilfabriken im Bentheimer Land so viele Arbeitsplätze anbieten konnten, dass auch Arbeiter außerhalb des jeweiligen Ortes angezogen wurden, machten sich im Bentheimer Land bald die Schattenseiten der Industrialisierung bemerkbar: Überlange Arbeitszeiten für Mann und Frau, unversorgte Kinder, Niedrigstlöhne, Zeiten der Arbeitslosigkeit ohne Verdienst und nicht zuletzt der Wohnungsmangel und das Hausen in schnell und billig hochgezogenen überbelegten Arbeitersiedlungen.
Arbeitersiedlung Strassburg in Schüttorf - Bild: privat
Viele Fabrikarbeiter linderten ihre Nahrungsmittelnot durch den Ertrag aus großen – zumeist gepachteten – Gärten, in denen sie ihre karge Freizeit verbrachten, oder als Erntehelfer bei Bauern.

Eine größere Zahl suchte allerdings angesichts ihrer scheinbar aussichtslosen Lage Trost im Alkohol – wie auch in zahlreichen anderen Regionen des Reiches. Der Alkoholismus wurde in dieser Zeit ein Massenphänomen. Zusätzlich förderten Grafschafter Sitten den Alkoholmissbrauch.

Der Schüttorfer reformierte Pastor Peter Bomfleur (1872-1946), der sich den Kampf gegen den Alkohol auf die Fahne geschrieben hatte, berichtete darüber: „Nach beendeter Arbeitszeit versammelten sich viele Fabrikarbeiter, während die Herren am Stammtisch saßen, in ihren „Lauben“ oder auf den „Dielen“ der Wirtschaften, um den Staub der Fabrik aus der Kehle zu spülen. Da saßen sie dann in den dunklen Löchern, legten Geld zusammen und ließen die Flasche munter kreisen, einmal und mehrere Male. Im Volksmund bekamen diese „Dielen“ ihre eigenen Namen. Man nannte sie Karussell, Kökelwagen, Fliederbusch, Pferdestall. ... Und mancher Mann hat bei solchem Leben und Treiben seines Weibes und seiner Kinder vergessen ...

Zur Herbstzeit, wenn das „Kartoffelgrepen“ im Gange war, durfte natürlich die Schnapsflasche nicht fehlen. Daran stärkte und erquickte sich fast die ganze Gesellschaft, Männer und Frauen; und auch die älteren Kinder durften ein Gläschen „probieren“. Mehr als einmal ist es aber vorgekommen, daß Frauen nachher ihren Rausch ausschlafen mußten.

Eine große Rolle spielten zur Herbstzeit auch die „Schlachtvisiten“. Man konnte kein Schwein schlachten, ohne den wichtigen Tag mit Schnaps zu begießen. Vor allem waren es Männer, die diese Unsitte eifrig pflegten; und manche mußten an einem Tage oft drei bis fünf solcher Visiten mitmachen …

Besonders traurige Übelstände waren mit den Beerdigungen verbunden. Man veranstaltete nach der Leichenpredigt in der Kirche oder nach der Rede am Grabe sogenannte „Groven“, Feiern, bei denen die Angehörigen oder Bekannten mit Branntwein oder Bier bewirtet wurden. Solch „Tröstelbier“, wie es anderwärts wohl genannt wird, wurde im Trauerhause oder im Wirtshause verabreicht.

Diese Feiern arteten aber manchmal so aus, daß die Leichenfeier den Charakter einer lustigen Hochzeit annahm, und das ernste Begräbnis mit einer mehr oder weniger großen Ausgelassenheit und Betrunkenheit der Teilnehmer endete ... Es war eben Sitte, und die meisten waren an ihr Gläschen gewöhnt.“

Der weitgereiste nationalsoziale Politiker und Bodenreformer Adolf Damaschke weilte um 1900 zum Wahlkampf in Schüttorf und machte dort Bekanntschaft mit dem Alkoholmissbrauch unter den Arbeitern. In seinen Memoiren schrieb er darüber: „Einmal habe ich allerdings in Schüttorf eine Versammlung gehabt, in der ich augenscheinlich unsere besten Freunde arg enttäuschte. Das Thema hieß: „Die Gegner der deutschen Arbeiterbewegung.“ Am Nachmittag war ich mit einem Freunde durch die Stadt gegangen.

Wir traten an einen Kinderwagen, in dem ein Kind jämmerlich schrie. Der Freund, der außerordentlich kinderlieb war, erkannte bald die Ursache der Not: „Aha, dem Kleinen ist sein Pfropfen weggefallen.“ Er suchte ihn im Wagen und steckte ihn dem Kinde in den Mund. Ich sagte: „Riecht das Ding nicht nach Schnaps?“ „Ja“, sagte er, „das ist Zucker mit Schnaps; das saugen hier die Kleinen. Durch den Schnaps werden sie betäubt und hören auf zu schreien. Da haben die Mütter Ruhe für die Heimarbeit, und wenn sie auf Arbeit gehen, wissen sie, daß die Kleinen schlafen.“

Ich sagte nichts; aber meinen Abendvortrag baute ich mir neu auf: die deutsche Arbeiterbewegung habe viele Gegner; der gefährlichste von allen sei vielleicht ihr eigener Unverstand: Ich erzählte das Erlebnis des Nachmittags und geißelte die Gewissenlosigkeit der Eltern, die die geistigen, sittlichen und körperlichen Kräfte ihrer Kinder im zartesten Wachstum vergiften durch derartige ‚Beruhigungsmittel’.“

Die Folgen des Alkoholismus’ sowie die allgemeinen Auswirkungen der „Brandweinpest“, wie das Phänomen seinerzeit häufig genannt wurde, beschrieb Pastor Bomfleur mit seinen Eindrücken, als er in Schüttorf erstmals die Wohnung einer Arbeiterin betrat, die dem Alkohol verfallen war: „Unser Weg führte uns einmal durch das Arbeiterviertel. … Die Wohnung, die wir betreten, ist in einem trostlosen Zustand.

Wenig Hausgeräte, dies wenige alt, verwahrlost, bestaubt, beschmutzt. Der Tisch mit allerhand schmierigem Geschirr bedeckt, der Lehnstuhl zerrissen, der Ofenherd alt und kalt. Wir fragen zwei in Lumpen gehüllte Kinder nach der Mutter. „Sie ist auf dem Feld beim Kartoffelgraben.“ Da dringt aus der Kammer ein seltsames Geräusch an unser Ohr. Wir ahnen nichts Gutes und gehen hinein.

Welch ein Anblick! Da liegt in einer dunklen Bettstelle, bedeckt mit Lumpen und Fetzen, völlig bekleidet, in total betrunkenem Zustande eine Frauensperson. Es ist die Mutter. Trotz des Rausches erhebt sie sich und wankt in die Stube, eine schreckliche Erscheinung ...

Aber die Frauen – das ist ein besonders trauriges Kapitel. Es war schon schlimm, wenn sie das Trinken und die Trunkenheit der Männer verteidigten oder doch in Schutz nahmen. Sie kannten doch die Gefahr, mußten sie kennen. Eine Frau aus der vornehmen Gesellschaft hat es einmal offen ausgesprochen: „Wenn die Männer etwas zu viel hatten, dann werden sie unanständig, unausstehlich.“

Noch schlimmer war, wenn sie [die Frauen] selbst das süße Gift liebgewannen und nicht mehr davon lassen konnten. Dann gingen sie wohl mit dem Körbchen im Arm über die Straße, anscheinend um Lebensmittel einzukaufen, in Wirklichkeit um Schnaps zu holen; und zu Hause tranken sie mit den Nachbarfrauen oft ihren Schnaps aus der Kaffeekanne.

Oft schickten sie ihre Kinder in eine Gastwirtschaft. ... Gelegentlich waren die Kinder allerdings klüger als ihre Eltern, als Vater und Mutter. Für zwanzig Pfennig hatten sie Schnaps zu holen. Dann kauften sie für zehn Pfennig und füllten, was fehlte, mit Wasser nach. Für die anderen zehn Pfennige aber kauften sie Brötchen, um den Hunger zu stillen.“

Von diesen Erfahrungen geprägt, setzte sich Pastor Bomfleur mit aller Kraft für die evangelische Blaukreuzbewegung ein, die ihre Mitglieder in wöchentlichen Versammlungen bestärkte, keinen Alkohol mehr zu sich zu nehmen. Während die Abstinenzler jeden Alkoholkonsum ablehnten, propagierten die Temperenzler eine starke Mäßigung des Alkoholgenusses. Insbesondere lehnten sie den Branntwein und andere hochprozentige Getränke ab, gestatteten jedoch den mäßigen Konsum etwa von Bier.

Pastor Bomfleur konnte mit seinen 1903 in Schüttorf gegründeten Verein bald Erfolge vermelden. Immer mehr Männer traten dem Verein bei, hauptsächlich Arbeiter, aber auch einige Handwerker. Bei den Frauen gelang erst der Durchbruch, als eine Pfarrersfrau dem Blaukreuzverein beitrat und massiv für ihn warb.

Andere Orte im Bentheimer Land zogen mit der Gründung einer Ortsgruppe nach, sodass 1910 ein Kreisverein der Grafschafter Blaukreuzbewegung gegründet wurde. Auch die katholische Kirche förderte in ihrem Bereich einen entsprechenden Verein. Bomfleurs Aktivitäten und die Mitgliedschaft jüngerer Pastoren in seinem Verein, die für die Alkohol-Abstinenz Werbung machten, sorgten schon bald für Veränderungen, wie der Schüttorfer Pastor überlieferte: „Die Pastorenkonferenzen, die hier nach alter Sitte in den Pfarrhäusern stattfinden, nahmen gar bald ein anderes Gepräge an. Die Weinflaschen verschwanden von den Tischen, und bald dachte niemand mehr daran, daß es früher so ganz anders gewesen war.“

Die „Schüttorfer Zeitung“ vom 16. Oktober 1900 berichtete vom nationalsozialen Nordhorner Arbeiterverein: „Die Monatsversammlung des Arbeitervereins erfreute sich am Sonnabend … eines überaus starken Besuchs ... Eine sehr lebhafte Debatte rief der Wunsch des Vorstandes hervor, fortan den Genuß von Branntwein, welcher bisher fast das ausschließliche Vereinsgetränk gebildet hatte, während der Versammlungen nicht mehr zu gestatten. Schließlich aber wurde dieser Antrag mit allen gegen eine Stimme angenommen. Eine Runde Bier, die der Vorsitzende spendete, trug dazu bei, den Übergang zu der neuen Ordnung zu erleichtern.“ So war hier Damaschkes Rede nicht folgenlos geblieben.

Schließlich änderten sich langsam auch die Grafschafter Begräbnissitten, wie die Neuenhauser „Zeitung und Anzeigeblatt“ am 16. Dezember 1911 aus Veldhausen berichtete: „Einer alten Sitte oder richtiger Unsitte will man hier den Garaus machen. Sowohl von den reformierten als auch von dem altreformierten Kirchenvorstand ist angeregt, bei Leichenbegräbnisfeiern das sog. ‚Groven’ oder das Biertrinken abzuschaffen. Bis jetzt sind dagegen aus den Gemeinden keine Einsprüche erhoben; man scheint doch wohl allgemein zu der Ansicht gekommen zu sein, daß das Biertrinken bei einer Trauerfeier nicht recht angebracht ist. So wird denn wohl die angeregte Maßnahme zur Durchführung kommen.“

Wie die „Ems-Zeitung“ aus Papenburg am 3. Februar 1912 kundtat, schlug dieses Vorbild Wellen. In Lage bei Neuenhaus habe nämlich der Gemeindevorstand mit den Angehörigen der reformierten und katholischen Kirche vereinbart, „künftig keine ‚Biergroven’ mehr zu halten.“

Quellen:
- Peter Bomfleur, Das Blaue Kreuz in Schüttorf. Blätter der Erinnerung zum 25jährigen Jubiläum, Schwerin o.J.
- Adolf Damaschke, Zeitenwende. Aus meinem Leben. Bd. 2, Leipzig/Zürich 1925, S. 405.

Arbeitersiedlung Krim in Schüttorf - Bild:: privat
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