8022 Spanische Grippe

Helmut Lensing

Die Spanische Grippe im Bentheimer Land

Weihnachten 1918 war für eine Vielzahl der Deutschen furchtbar tränenreich. Noch einen weitaus höheren Blutzoll als der Weltkrieg forderte gerade in den Wochen vor Weihnachten die lange Jahre vergessene „Spanische Grippe“. Die kriegsführenden Staaten verschwiegen den wahren Umfang der Seuche, die 1918/19 in drei Wellen um die Erde schwappte.

Da im neutralen Spanien keine Zensur herrschte und dort erstmals offen über die katastrophale Seuche berichtet wurde, erhielt dieser Grippevirus seinen Namen nach diesem Land. Die Infizierten bekamen meist plötzlich sehr hohes Fieber samt Schüttelfrost, heftige Kopf- und Gliederschmerzen, Husten und starke Reizungen im Hals- und Rachenbereich. Viele starben an einer von Blutungen begleiteten Lungenentzündung, die jedoch lange nicht bei allen Betroffenen auftrat. Wegen des Befalls der Lunge wiesen viele Erkrankte eine bläulich-schwarze Verfärbung der Haut auf, die von Sauerstoffmangel herrührte. Die meisten Infizierten erholten sich zwar nach zum Teil wochenlangem Krankenlager, doch die Todesrate gerade unter den jungen Menschen war außergewöhnlich hoch.

Die Neuenhauser „Zeitung und Anzeigeblatt“ berichtet vom ersten Auftreten der Grippe in Deutschland. Aus: Zeitung und Anzeigeblatt Nr. 53 vom 06.07.1918

Die „Bentheimer Zeitung“ rät zu Hausmitteln wie Rote Rüben gegen die heftig wütende Grippe. Aus: Bentheimer Zeitung Nr. 86 vom 26.10.1918

Ein Arzt warnt von dem Händeschütteln wegen der Übertragung der Grippe. Aus: Bentheimer Zeitung Nr. 90 vom 09.11.1918

Todesanzeige eines jungen Wilsumers, der an den Folgen der Spanischen Grippe verstorben war. Aus: Zeitung und Anzeigeblatt Nr. 91 vom 23.11.1918

Die damalige Grafschafter Presse verschwieg zumeist und verharmloste die Krankheit. So widmete die Neuenhauser „Zeitung und Anzeigeblatt“ der Krankheitswelle erst auf ihrem Höhepunkt im Herbst 1918 etwas mehr Aufmerksamkeit. Um keine Panik hervorzurufen und die außergewöhnlich hohe Todesrate der Erkrankten zu verschleiern, letztlich um die deutschen Kriegsanstrengungen nicht zu gefährden, betonte sie noch am 9. November 1918 mehrfach die generelle Harmlosigkeit der Grippe.

So schrieb das Blatt: „Ueber die Grippe, die seit Monaten in unserm Vaterlande strichweise ihr Unwesen treibt und zur Zeit in unserer Grafschaft noch weit verbreitet ist, sind schon Dutzende von Erklärungen versucht. Es ist ja auch nur zu natürlich, daß diese schnell um sich greifende, in der Regel aber nur einige Tage währende Krankheit in hohem Maße die Gemüter beschäftigt, ist unter uns doch kaum einer, der nicht schon bös von ihr gezwickt wurde oder noch wird. Gefährlich ist die Grippe an sich nicht. Es ist aber für die davon Betroffenen unbedingt erforderlich, daß sie das Bett hüten und sich schonen. Denn in den Fällen, wo das nicht geschieht, treten leicht Komplikationen ein (so ist vereinzelt eine Folgeerscheinung der Grippe Lungenentzündung gewesen). Aber wie gesagt, an sich ist die Krankheit durchaus ungefährlich, doch lästig in hohem Maße. Tritt sie in einem Hause auf, so kann man fast mit Sicherheit darauf rechnen, daß sie nacheinander sämtliche Hausangehörige erfasst – tut sie es sogar gleichzeitig, dann ist die Not umso größer“.

Das Wirtschaftsleben geriet – wie etwa die Herstellung der Neuenhauser Zeitung – ins Stocken. Ein aufmerksames Studium der Anzeigenseiten gab indes Hinweise auf eine Besonderheit gerade dieser Grippewelle. So hieß es etwa am 6. November in der Todesannonce von Getreuda Hans aus Heesterkante, sie sei „im blühenden Alter von 16 Jahren und 10 Monaten plötzlich und unerwartet“ gestorben, beim Frensdorfer Anton Speller schrieb sein Sportclub, er sei „infolge kurzer, schwerer Krankheit“ verschieden, was ebenso für die 26-jährige Anna Harms-Ensink aus Bookholt und Fenna Klever aus Halle, die im vollendeten 58. Lebensjahr starb, galt.

Am 2. November verkündete die Todesnachricht des Frensdorfers Hermann Hötmann, er sei, nachdem er im Kriege alle Strapazen ertragen habe, „im Felde einer tückischen Krankheit“ erlegen. Die Obergrafschafter Zeitungen ignorierten die Grippewelle fast völlig. Hier finden sich fast ausschließlich Todesanzeigen von Menschen, die im „blühenden“ Alter plötzlich dahingerafft wurden. Allerdings schrieb der Schüttorfer Lehrer Wilhelm Berge zum Sommer 1918 in seinen Erinnerungen: „Im Juni forderte eine bösartige Grippe viele Opfer. Zu der Zeit standen im Kirchspiel Schüttorf mal sieben Leichen unbeerdigt. Dem Elend erlagen besonders viele Mädchen im Alter von 18 – 20 Jahren und junge Frauen“.

In der Chronik der katholischen Kirchengemeinde Wietmarschen hielt der Pfarrer Matthias Rosemann dazu nur lapidar fest: „Im Nov. erkrankten in der Gemeinde viele Personen an der „neuen“ Krankheit, der Grippe. Die Krankheit verlief im allgemeinen nicht sehr bösartig, wie in manchen benachbarten Gemeinden, trotzdem waren doch auch hier einige Todesfälle zu beklagen.“

Der reformierte Pastor im benachbarten Georgsdorf schrieb im 158. Kriegsbrief an die eingezogenen Soldaten am 26. Juli 1918 zur ersten Welle: „Aber wir blicken auf zu dem Gott, der Wunder getan hat und tut, und dessen Hülfe am nächsten, wenn die Not am größten. Wie abhängig alle Menschen von ihm sind, zeigt sich auch an der spanischen Krankheit, der uns recht unbekannten „Griep“, die in allen Völkern Tausende arbeits- und kampfunfähig macht.“

Die zweite Welle im Herbst machte auch um Georgsdorf keinen Bogen. Im 164. Kriegsbrief vom 12. Oktober 1918 vermeldete Pastor Voget: „Erkrankt sind die vor kurzem von hier eingezogenen Rekruten auch, Herbers, Glüpker, Vennegerts, Hindriks, aber doch gnädig bewahrt geblieben … Hier in der Heimat sind die beiden Schwestern Mina und Telle Vennegerts an der Grippe gestorben. Am Dienstag starb Telle und am Donnerstag Mina, nun vereint im Tode.

Im nächsten Kriegsbrief vom 25. Oktober 1918 vermeldete der Pastor: „Und während wir noch immer hoffen, daß der Krieg bald zu Ende gehe, rafft Gott in allen Ländern durch die sonst so wenig gerechnete Grippe Tausende und Abertausende von jungen Menschen dahin. Auch wir sind wieder heimgesucht worden. Gestern kam die erschütternde Nachricht, daß Eure Kamerad Jan Hindrik Leupen an dieser Krankheit mit hinzutretender Lungenentzündung im Lazarett zu Bialystock (Rußland) gestorben ist. … Sein Bruder Gert Hindrik ist in Berlin an derselben Krankheit erkrankt, aber auf dem Wege der Besserung. In großer Sorge sind wir um das Leben von Lambert Deters, der in Wilhelmshaven schwer an Grippe erkrankte. … Hermann Meyer kam gesund auf Urlaub und erkrankte dann mit seiner Frau schwer an Grippe.“

In der Georgsdorfer Schulchronik war daher über die Spanische Grippe in Dorf zu lesen: „Zu Beginn des Winter-Halbjahres erkrankten viele Georgsdorfer an der Grippe. Kein Haus unserer Gemeinde ist davon verschont geblieben. Die Schule mußte 14 Tage geschlossen werden, weil die Lehrer und sämtliche Kinder erkrankt waren. Der Tod hielt reichliche Ernte. In einer Woche wurden 13 beerdigt. Noch nie sah man hier ein solches Sterben. Heute rot – morgen ... Es starben verschiedene junge Mädchen im blühenden Alter von 20 Jahren. Heute waren sie noch frisch und gesund. Morgen klagten sie über Kopfschmerzen. Der Arzt stellte die Grippe fest. Lungenentzündung kam hinzu. Übermorgen waren sie eine Leiche!“

In der Alten Piccardie notierte der Lehrer zu der Krankheit in der Gemeinde in seiner Schulchronik: „Während des ganzen Sommers herrschte in der Gemeinde die spanische Grippe. Große Ausdehnung gewann dieselbe im November. Dazu trat sie um diese Zeit sehr bösartig auf, sodaß einzelne Familien schwer heimgesucht wurden. So fielen in der Familie Raterink am Kanal Mann und Frau dieser Krankheit zum Opfer. Kurze Zeit nachher starb auch noch ein Kind dieser Familie. Auch der Schulbetrieb litt durch die Grippe sehr. Vom 4.-12.11.18 mußte der Unterricht ausfallen, da der Lehrer Lahmann während dieser Zeit an Grippe erkrankt war. Am 13.11.18 fehlten von 72 Kindern 38, die alle an Grippe krank danieder lagen.“

In Nordlohne, heute eine Ortsteil von Wietmarschen, vermeldete die Schulchronik 1918: „Im Herbst stellte sich eine sehr ansteckende Krankheit, die Grippe ein, an der nicht allein die Kinder, sondern auch die Erwachsenen erkrankten. Ganze Familien mußten bei Fieber und Husten wohl 3 Wochen das Bett hüten. Dieser tückischen Krankheit fielen in Nordlohne 6 Personen zum Opfer.“

Die Ärzte waren damals hilflos. Die „Bentheimer Zeitung“ empfahl am 26. Oktober 1918 lediglich Maßnahmen zur Linderung der Spanischen Grippe. So druckte sie folgenden Ratschlag eines österreichischen Naturheilkundlers ab: „Ein sehr einfaches, aber gutes Mittel gegen die spanische Krankheit sind rote Rüben ... Ich habe viele Kranke gesehen, die abends 40 Grad Fieber hatten und nach Genuß der roten Rüben in der Frühe vollständig fieberfrei waren“.

Da man den für die schwere Krankheit verantwortlichen Virus erst Jahre später entdeckte, reagierten die Ärzte zumeist hilflos auf diese neue Bedrohung. Am 9. November 1918 druckte das Blatt zudem die Warnung eines Arztes ab, sich weiterhin wie gewohnt die Hände zu geben, da dieser Brauch die Verbreitung der Grippe nur fördere. Die „Schüttorfer Zeitung“ hatte bei der ersten Welle im Sommer bereits am 7. August das alte Heilmittel Kamillentee als probates Mittel gegen die Auswirkungen der Grippe angepriesen.

Doch gerade die zweite Welle im Herbst war keineswegs so harmlos, wie die offiziellen Verlautbaren Glauben machten. Im heutigen Wietmarscher Ortsteil Lohne musste der katholische Ortspfarrer 1917 lediglich 14 Beerdigungen vornehmen, 1918 stieg die Zahl auf 45, 1919 waren es hingegen nur 17. Somit können auch die Pfarrarchive Aufschlüsse über die Folgen vor Ort geben und vielleicht den Blick für Tragödien öffnen, die sich manchmal in Sterbeanzeigen andeuten, wenn es etwa am 2. November 1918 bei dem fast sechsjährigen Gerriet Jan Kwade aus Bathorn hieß, er sei als einziger Sohn seiner Eltern „plötzlich und unerwartet nach ganz kurzer Krankheit“ verstorben.

Literatur
Witte, Wilfried, Die Spanische Grippe 1918 bis 1920 in der Grafschaft Bentheim – Annäherung an die Geschichte einer Seuche im ländlichen Raum, in: Die Grafschaft Bentheim im Ersten Weltkrieg – „Heimatfront“ an der deutsch-niederländischen Grenze. Hrsg. vom Heimatverein der Grafschaft Bentheim e.V. in Zusammenarbeit mit dem Landkreis Grafschaft Bentheim durch Eugen Kotte und Helmut Lensing (Das Bentheimer Land, Bd. 222), Nordhorn 2018, S. 412-433.
Simon, Dieter, Die „Spanische Grippe“-Pandemie von 1918/19 im nördlichen Emsland und einigen umliegenden Regionen, in: Studiengesellschaft für Emsländische Regionalgeschichte (Hrsg.), Emsländische Geschichte 13, Haselünne 2006, S. 106-145.

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