Die Grafschaft Bentheim in der Geschichte


Dreiklassenwahlrecht

Helmut Lensing

Das Dreiklassenwahlrecht und Wahlmanipulationen im Wahlkreis Lingen-Bentheim

Die Wahl des Abgeordneten zum Preußischen Abgeordnetenhaus, im Volksmund Landtag genannt, begann mit der so genannten Urwahl. An ihr durfte jeder männliche preußische Staatsbürger teilnehmen, der im Besitz der bürgerlichen Rechte war, sein 24. Lebensjahr vollendet hatte und seit mindestens einem halben Jahr offiziell in der Gemeinde ansässig war.

Hierbei bestimmten die Wähler – getrennt in drei Steuerklassen – so viele Wahlmänner, wie ihrer Klasse zustanden. Die Höhe des Wahlmännerkontingents eines Wahlkreises und der verschiedenen Gemeinden richtete sich nach der jeweiligen Einwohnerzahl, wobei auf 250 Einwohner ein Wahlmann entfiel. Die Wahlen zum Preußischen Abgeordnetenhaus waren indirekt und öffentlich, wobei die Stimmen nicht gleich gewichtet waren.
Nach einer Drittelung des Gesamtsteueraufkommens der jeweiligen Gemeinde, seit 1893 des Urwahlbezirks, teilte man die Urwähler in drei Klassen auf, die später Abteilungen genannt wurden. Die Klassifizierung richtete sich nach der Höhe des jeweiligen Staatssteuerbeitrags des einzelnen Urwählers.

Jede Klasse wählte in der Regel ein Drittel der dem Urwahlbezirk zustehenden Wahlmänner. Dabei durften die Urwähler für so viele Kandidaten votieren, wie ihrer Klasse Wahlmänner zustanden. Bei gleichem Steuerbeitrag war folglich je nach Wohngegend eine völlig unterschiedliche Einstufung in die drei Klassen üblich, da naturgemäß die Anzahl der Steuerzahler in den verschiedenen Klassen und von Urwahlbezirk zu Urwahlbezirk sehr unterschiedlich ausfiel.

Daher war es möglich, dass das Votum weniger Personen die Wahlentscheidung von hunderten weniger bemittelter Männer zunichte machen konnte. Die „Osnabrücker Volkszeitung“ vom 27. Oktober 1898 berichtete folglich aus der Obergrafschafter Textilstadt Schüttorf, wo die reiche Fabrikantenfamilie Schlikker wohnte: „In Schüttorf werden von 15 Wahlmännern 6 Wahlmänner von 5 Personen gewählt. In einem Wahlkreise Schüttorfs besteht die gesamte 1. Klasse nur aus dem Fabrikanten Schlikker und die 2. Klasse aus dessen Bruder.“

Jede Klasse musste nach ihrer Wahlhandlung den Abstimmungsraum verlassen. Die Abstimmung hatte mit der 3. Abteilung zu beginnen. Folglich mussten die beiden unteren Klassen quasi unter Aufsicht der 1. Klasse ihre Stimme abgeben, während diese hingegen unter sich blieb.

Einige Tage nach den Urwahlen versammelten sich die Wahlmänner – im Landtagswahlwahlkreis Lingen-Bentheim in Lingen – und stimmten über die Kandidaten ab. Sofern ein Bewerber nicht auf Anhieb die absolute Mehrheit der Wahlmännervoten erreichen konnte, fand eine zweite Abstimmung statt, der sogenannte „Engere Wahlgang“, bei dem lediglich die Kandidaten ausschieden, die keine oder nur eine Stimme erhalten hatten.

Bei den nächsten Wahlgängen schied dann der jeweils stimmenschwächste Kandidat aus. Ergab sich zwischen zwei Bewerbern schließlich ein Patt, so war als letzte Lösung der Losentscheid vorgesehen. In beiden Fällen mussten die Wählenden nach dem Aufruf ihres Namens vor dem Wahlvorstand treten und laut den Namen desjenigen nennen, den sie ihre Stimme geben mussten. Ein daran angelehntes Wahlrecht existierte für die Kommunalwahlen in den preußischen Gemeinden und Städten.

Wahlmanipulationen im Wahlkreis Lingen-Bentheim

Das öffentliche, ungleiche und indirekte Wahlrecht zum Preußischen Abgeordnetenhaus bot den Behörden zahlreiche Möglichkeiten, regierungsfreundliche konservative oder rechtsliberale Bewerber zu unterstützen und regierungskritische Kandidaten, vor allem Sozialdemokratien, Zentrumsleute, Linksliberale und Bewerber der nationalen Minderheiten wie der polnischen Bevölkerung in den preußischen Ostprovinzen, zu benachteiligen. Einige dieser Maßnahmen waren nicht legal, viele aber fanden in einer rechtlichen Grauzone statt und wurden nicht geahndet.

Im Wahlkreis Lingen-Bentheim richteten sich die obrigkeitlichen Maßnahmen vor allem gegen die Bewerber der katholischen Zentrumspartei, die aufgrund des „Kulturkampfs“ in Opposition zum preußischen Ministerpräsidenten Otto von Bismarck stand. Der Unmut der Katholiken über ihre Benachteiligung machte sich zur Wahl von 1878 in dem „Lingener Volksboten“ vom 11. Oktober 1879 Luft.

Die regierungsfreundlichen Kräfte waren gespalten zwischen den konservativen Bewerber Eduard von Marcard aus Berlin, den die Katholiken unterstützten, und dem katholikenfeindlichen nationalliberalen Amtsinhaber Dr. Johann Köhler aus Neuenhaus. Dies eröffnete die Chance der katholischen Zentrumspartei, deren Anhänger sich im Amt Lingen und den Grafschafter Gemeinden Wietmarschen, Engden und Drievorden konzentrierten, den kulturkämpferischen Abgeordneten Dr. Köhler abzuwählen, zumal die Katholiken eine leichte Mehrheit im Wahlkreis stellten.

Doch der regierungstreue Lingener Landrat hatte im Vorfeld schon dafür gesorgt, dass die katholische Zentrumspartei nicht zu viele Wahlmänner erhielt, wie das Lingener Blatt beklagte: „Wir benutzen diese Gelegenheit, um über die Bildung der Urwahlbezirke im Amte Lingen ein Wort zu sagen. Wir müssen mit Befremden constatiren, daß im Amte Lingen 1202 Seelen als überzählich ausfallen. Das Amt Lingen würde demnach wenigstens 4 Wahlmänner mehr wählen, – wenn die Bezirke anders eingetheilt wären. Höchst auffallend erscheint der zweite Wahlbezirk (Baccum, Münnigbüren, Ramsel, Brockhausen, Düsenburg) mit 999 (!) Seelen, wo also 249 in Wegfall kommen, weil 250 nöthig sind, um einen Wahlmann zu erhalten. Im ersten Urwahlbezirk fallen 205, im achten 219 Seelen aus.“

Massive administrative Maßnahmen, um die Katholiken zu benachteiligen, konstatierte ebenfalls der „Lingener Volksbote“ vom 9. November 1888, als das Zentrum ein Bündnis mit den Deutschkonservativen aus der Niedergrafschaft geschlossen hatte, um mit deren Bewerber Harm Hoppen gegen den freikonservativen Regierungskandidaten, den Osnabrücker Regierungspräsidenten Dr. Gustav Stüve, bestehen zu können: „Mit 108 St. gegen 120 St., welche auf den zeitigen Regierungspräsidenten Stüve gefallen sind, ist dieselbe in der Minderheit geblieben. Der Sieg der Cartellparteien … ist ein sehr geringer…. Er konnte dann überhaupt bei der offenen Uneinigkeit im andern Lager nur zu Stande kommen, wenn die Parole gegen die Katholiken ausgegeben wurde: Katholisch wählen, d.h. mit den Katholiken gehen, und katholisch werden gilt vielen als dasselbe. …

In der Stadt Lingen ist unsere Partei unterlegen; von 24 St. sind ihr nur 8 zugefallen; ein umgekehrtes Verhältniß hätte uns zum Siege verholfen. … In der Grafschaft Bentheim sind den Gegnern durch Anwachsen der Städte einige Stimmen mehr zugefallen, während uns durch das unnatürliche Auseinanderreißen von Engden und Drivörden dort eine Stimme entzogen wurde. … Dagegen kommt in der Grafschaft Bentheim die Seelenzahl durchgehends ganz und voll zur Geltung, so daß dieselbe bei einer Mehrheit der Bevölkerung von 1500 Seelen elf Wahlmänner mehr sandte als der Kreis Lingen.

Ferner werden dort die größeren katholischen Gemeinden, ausgenommen Wiethmarschen, todt gestimmt. …. – Ueber den unerhörten Druck, mit dem eine ganze Zahl katholischer Wähler aus dem Arbeiterstande in der Stadt Lingen abgeschreckt oder gegen ihre Ueberzeugung zu wählen genöthigt sind, wird demnächst ein weiteres Wort geredet werden. Es ist in der That traurig, daß man trotz seiner gepriesenen Liberalität und trotz des jüngst gegebenen Königswortes in einer solch drückenden Weise wagt, den armen Arbeitern ihr natürliches und heiligstes Recht zu verkümmern.“

Die Unterlegenen strengten eine Wahlanfechtung vor dem Preußischen Abgeordnetenhaus an, über das allerdings erst Jahre später entschieden wurde. Über die beiden katholischen Dörfer Engden und Drievorden hieß es dazu: „Der Landrath in Bentheim habe die drei katholischen Ortschaften Brandlecht, Engden, Drievorden, welche stets zusammengewählt hätten, auseinandergerissen und eine ganz unnatürliche Zusammensetzung vorgenommen, um diese Ortschaften todtzuzirkeln.

Drievorden sei ausschließlich nicht katholischen Ortschaften zugetheilt worden; bei Hochwasser der Vechte seien die Wahlmänner gezwungen, einen weiten Umweg zu machen, damit sie ihr Wahlrecht ausüben könnten. Wenn früher drei, so würde jetzt nur ein Wahlmann oder höchstens zwei für die Partei der Protesterheber gewonnen werden.“

Zum Druck auf die Arbeiter in Lingen führten die Klageerheber an: „Auf der Königlichen Eisenbahnwerkstatt sei ein unerhörter Druck auf die Arbeiter ausgeübt worden. Es seien seitens der Vorarbeiter die Aeußerung gethan: ,,Zwei Fragen kommen in Betracht, eine Brot- und eine Gewissensfrage. Nun wissen Sie, wen Sie zu wählen haben.“ ,,Wen wählen Sie? Wie lange arbeiten Sie hier? So viel Jahre haben Sie hier Ihr Brot gegessen; dann müssen Sie auch wissen, wen Sie zu wählen haben. Passen Sie auf, daß Sie noch das andere Jahr Ihr Brot haben.“ –

Ein Werkmeister sei rundgegangen und habe verschiedene Leute seiner Werkstatt, die gegen seine Partei (Kartell) wählen würden, darauf hingewiesen, daß sie wüßten, wo sie ihr Brot verdienten; dann wüßten sie auch, wenn sie wählen müßten. Dieses Manöver sei angestellt worden am Wahltage vor 10 Uhr, als die Arbeiter entlassen wurden, damit sie unter dem Drucke der von den Vorgesetzten gemachten Hinweise entweder gar nicht wählten oder gegen ihre Ueberzeugung stimmten. Dadurch sei in der 3. Abtheilung des III. und IV. Wahlbezirks den Gegnern der Sieg zugefallen.“

Leiter der Eisenbahnwerkstatt, dem größten Arbeitgeber Lingens, war Emil Hummell, der zugleich Führer der Nationalliberalen im Wahlkreis war. Hummell war Mitglied in einem Lingener Wahlvorstand, vor dem viele seiner katholischen Arbeiter öffentlich ihr Votum abgeben mussten – wobei sie eigentlich gegen ihn und seine Partei votieren wollten. In der Wahlanfechtungsklage hieß es dazu: „Im III. Wahlbezirke habe der Maschineninspektor Hummell, dem die ganze Werkstatt unterstellt sei, selbst am Wahltische gesessen und eine Liste über die auf der Werkstatt arbeitenden Urwähler geführt. Jeder Arbeiter habe einen Vermerk erhalten; habe er gefehlt, ein Kreuz, habe er gegen Hummell gestimmt, einen rothen Strich.

Hummell sei auf das Unpassende seines Verhaltens ohne Erfolg aufmerksam gemacht worden; selbst bei Leuten der eignen Partei habe das rücksichtslose Gebahren Hummells Verurtheilung gefunden. Unabhängige Urwähler haben bei Abgabe der Stimme erklärt: „Ich bekomme aber keinen Strich.“ Die von Hummell abhängigen Arbeiter seien durch diese drückende Kontrolle eingeschüchtert worden und haben gegen ihre Ueberzeugung gewählt.“ Hummels Verhalten wurde gerügt, doch nur die monierten verwaltungstechnischen Missstände führten dazu, dass letztlich die Wahl wiederholt werden musste und Stüve gegen Hoppe verlor.

Als ab 1898 Hellmuth von Gerlach für den sozial eingestellten evangelisch geprägten Nationalsozialen Verein die Grafschafter Arbeiter organisierte und vor dem Hintergrund der sozialen Probleme in der Arbeiterschaft versuchte, im Bündnis mit dem Zentrum gegen die Nationalliberalen und Freikonservativen das Mandat zu gewinnen, machte er ähnliche Erfahrungen wie das Zentrum. In seinen Memoiren berichtete er, wie er in den Grafschafter Gemeinden um Zustimmung warb und viel Zuspruch erhielt. Doch: „Es gab Dörfer, wo ich fast die Gesamtheit der Wähler für mich gewonnen hatte. Aber ich fand nicht die drei Männer, die ich als Wahlmänner brauchte. „Öffentlich unseren Namen für Gerlach hergeben? Was würde der Herr Pastor dazu sagen? Was der Herr Landrat?“ Und dann schüttelten die wackeren Kaufleute und Handwerker und Lehrer wehmütig die Köpfe“.

Als er die Abgeordnetenhauswahl von 1898 unerwartet verlor, schrieb er als erste Reaktion darauf in der nationalsozialen Parteizeitung „Die Hilfe“ aus Berlin am 6. November 1898: „Für heute will ich nur bemerken, daß in Schüttorf wie in Lingen ein entsetzlicher Druck auf unsere Kerntruppe, die Arbeiter, ausgeübt worden ist. In Lingen hat das jeden Erfolg für uns vereitelt. In Schüttorf hätten wir trotzdem in der 3. Klasse überall glänzend gesiegt, wenn nicht fast die Hälfte der Arbeiter in den Listen gefehlt hätte. Deshalb sind wir in einem Bezirk mit 2 Stimmen angeblich in der Minderheit geblieben“.

Der Grafschafter Lehrer und Heimatforscher Ludwig Sager (1886-1970) erlebte als Kind diese Urwahl in Schüttorf mit. Dort waren viele Arbeiter von den Nationalsozialen organisiert worden, um ihre Interessen gegen die nationalliberalen Textilfabrikanten, die im Ort das Sagen hatten, zu vertreten. Dazu stellten die Nationalsozialen bei den Urwahlen eigene Kandidaten für die Arbeiter auf. Die Fabrikanten, die die Stadtverwaltung und den Wahlvorstand stellten, wollten aber mit allen Mitteln ihre politische Vorherrschaft bewahren.

Sager berichtet: „Das verständnisvolle Wohlwollen eines älteren Freundes unseres Hauses verschaffte mir, dem Zwölfjährigen, 1898 „Gelegenheitsarbeit“ in einem Schüttorfer Wahllokal während des Wahlvorgangs. – Einige Arbeiter wagten es, gegen den Stachel zu löcken, hatten sich heimlich zusammengetan und Wahlmänner aus ihren Reihen aufgestellt. Der Einbruch der Nationalsozialen, einer freisinnigen Partei unter Friedrich Naumann und Helmut von Gerlach, hatte besonders in Schüttorf viele Schlafende aufgeweckt und die Gemüter erregt.

Selbst durch die Reihen der Mittelschüler ging ein Riß: Hier die neue, hier die alte staatserhaltende Partei. – Als nun, zur Wahl aufgerufen, auch die Arbeiter etwas kleinlaut die Namen ihrer Männer nannten, kam vom Vorstandstisch der Ruf: „Bitte laut und deutlich!“ Da hieß es bekennen oder umfallen, das heißt aus wirtschaftlichen Gründen den Männern die Stimme geben, die von führenden Kräften vorgeschlagen waren und von denen man sich wirtschaftlich abhängig fühlte. Da wurde mancher in den Knien und auch im Kreuz weich und rief einen Namen in den Saal, den er gar nicht hatte nennen, den aber sehr viele mächtige und einflußreiche Männer von ihm hören wollten.“

Davon geprägt, trat Sager als Junglehrer in Uelsen 1913 als Wahlmann für den Niedergrafschafter bäuerlichen Oppositionskandidaten, den Wilsumer Bauern Willem Iemhoff, gegen den freikonservativen Abgeordneten und Bentheimer Landrat Hermann Kriege an. Kriege amtierte schon seit 1888 Grafschafter Landrat und hatte die Honoratioren hinter sich, gegen ihn stellte sich die Koalition aus einigen Niedergrafschafter deutschkonservativen Wahlmännern mit dem großen Block der katholischen Zentrumswahlmänner.

Von der Wahl des Abgeordneten durch die gewählten Wahlmänner berichtete er: „An dem großen Tag von Lingen versammelten sich die rund 210 Wahlmänner in dem großen Wirtschaftsgarten des Wahllokals. Einzelne Gruppen hatten sich auf Lauben, Pavillon und Veranden verteilt. Hier Ober- und Mittel-, da Niedergrafschaft, die aufgeteilt in Gegner und Landratswähler. Die Bentheimer und Schüttorfer wußten inzwischen, was auf dem Spiele stand. Es galt, durch Überredung die Opposition zu schwächen und das Zentrum kopfscheu zu machen: „Die wollen 30 Wahlmänner stellen? Die Gemeindevorsteher sollten unserem tüchtigen Landrat ihre Stimmen verweigern? Lächerlich!“

Jede Landgemeinde hatte natürlich ihren Burschulten nach Lingen bestellt, und „der sollte es wagen, seiner Obrigkeit, dem Herrn Landrat, den Gehorsam aufzusagen? So dumm ist doch keiner!“ ... Überall erregte Gespräche, lautstarke Auseinandersetzungen, die sich von Stunde zu Stunde bedrohlich steigerten, je näher die angesetzte Wahl kam. Versuche, mich als Schüttorfer, also als Obergrafschafter, umzustimmen, blieben erfolglos.

Das brachte einen älteren Verwandten in Wut: „Du Grünhorn blamierst deine ganze Verwandtschaft! Schläge müßtest du haben!“ ... Gleich darauf wurden wir zur Wahl in den Saal bestellt. Anhand der alphabetisch aufgestellten Listen wurden dann die Wahlmänner einzeln aufgerufen: „Wen wählen Sie?“ Kam die Antwort etwas zögernd und kleinlaut, hörte ich immer wieder vom Vorstandstisch: „Unverständlich! Laut und deutlich im ganzen Saal hörbar!“

... Verlas der Protokollführer einen Namen von unseren Leuten, war allgemeine Stille. Erwarteten wir Uelsener den Namen unseres Kandidaten, hörten aber, etwas kleinlaut: „Landrat Kriege!“ kam lautes Bravo! von der anderen Seite und dazwischen: „Der hat noch Verstand!“ Hieß es doch einige Male: „Hofbesitzer Iemhoff!“ flüsterten die Gegner einander zu: „So'n Dämel! Pfui! Der hat nicht mehr Verstand!“

Erklärungen:
  • katholisch werden …: Hintergrund: Seinerzeit herrschte in Deutschland eine massive antikatholische Stimmung, die im Kulturkampf auch politisch Ausdruck fand und auch im Bentheimer Land weit verbreitet war
  • St.: Stimmen
  • Cartell: Zusammenschluss der rechten regierungsfreundlichen Parteien (vornehmlich Nationalliberale, Deutsch- und Freikonservative), um die Regierung gegen die oppositionellen Linksliberalen, Sozialdemokraten und Zentrumsanhängern zu unterstützen.
  • todt gestimmt: Der Landrat hatte die Wahlkreise zu bestimmen, wobei er sie so legte, dass katholische Gemeinden wie Engden nicht wie üblich mit der katholischen Nachbargemeinde Drievorden, sondern mit reformierten Gemeinden wie Brandlecht stimmten, wodurch die Protestanten ein Übergewicht erhielten. 
  • Hoppe: Der reformierte Landwirt Harm Hoppe (1826-1908) aus Osterwald, der sich später Hoppen nannte, war in der Lokalpolitik tätig, so als Markenvorsteher. 1886 wurde er als agrarischer Konservativer mit Hilfe des Zentrums bei der Nachwahl nach dem Tode Jann Jacobs in das Preußische Abgeordnetenhaus gewählt. Seine Wiederwahl 1888 scheiterte an Wahlmanipulationen zugunsten des Osnabrücker Regierungspräsidenten Stüve.
  • Stüve: Der Osnabrücker Regierungspräsident Dr. Gustav Stüve (1833-1911) schlug nach einem Jurastudium die Verwaltungslaufbahn ein. Von 1887 bis 1900 war er Osnabrücker Regierungspräsident. 1886 wurde er im Wahlkreis Lingen-Bentheim für die regierungsfreundlichen Kräfte in das Preußische Abgeordnetenhaus gewählt. 1891 wurde seine Wahl wegen Wahlmanipulationen zu seinen Gunsten für ungültig erklärt. Stüve verlor die Nachwahl. 1893 trat er im Wahlkreis „Meppen“ zur Reichstagswahl als Regierungskandidat vergeblich gegen das Zentrum an.
  • Elf Wahlmänner: Eigentlich sollte auf 250 Einwohner ein Wahlmann entfallen. So hätte die protestantisch-regierungsfreundliche Grafschaft rein rechnerisch nur sechs Wählmänner mehr haben dürfen als der katholisch-oppositionelle Kreis Lingen.
  • Zeitigen: gegenwärtigen
  • Colon: Bauer

Literatur
  • Anlagen zu den Stenographischen Berichten über die Verhandlungen des Hauses der Abgeordneten während der 2. Session der 17. Legislatur-Periode. 2. Bd., Berlin 1890, S. 1035-1037 (Wahlanfechtung).
  • Gerlach, Hellmuth von, Von rechts nach links. Lebenserinnerungen eines Junkers. Hrsg. von Emil Ludwig, Zürich 1937, S. 179.
  • Die Hilfe Nr. 45 vom 06.11.1898, S. 12.
  • Lensing, Helmut, Wahlmanipulationen im Landtagswahlkreis Lingen-Bentheim, in: Mitteilungen des Vereins für Geschichte und Landeskunde von Osnabrück (Historischer Verein), Bd. 104, Osnabrück 1999, S. 253-275.
  • Sager, Ludwig, Geschichte der Menschheit – Geschichte der Freiheit. Wahlen unter preußischem Dreiklassenwahlrecht, in: Der Grafschafter 1968, Folge 188, Nordhorn 1968, 556-557, S. 556.
Hellmuth von Gerlach (1866 - 1935) versuchte, die Grafschafter Arbeiterschaft in nationalsozialen Arbeitervereinen zu organisieren
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